Da stehe ich – das Ungelebte Leben – nun am Grab des Mannes, den ich sein Leben lang begleitet habe.1 Wir hatten eine innigliche und spannungsreiche Beziehung.

Schon in seiner Jugend gab es Konflikte. Ein Freund hatte ihn ermahnt, seine „Talente“ nicht mir zu überlassen. Es sei verwerflich, Talente nicht ins Gelebte Leben zu holen.2 Zähneknirschend überließ er sie mir aber trotzdem.

Ich wuchs und wurde immer eindrucksvoller ausgestattet. Mit jeder Entscheidung, die der Mann traf, bekam ich – das Ungelebte Leben – all die ungenutzten Möglichkeiten und ich gab nichts wieder heraus.
Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich kann nichts dem Gelebten Leben übergeben. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.
Das machte ihm Angst und er vermied es, sich zu entscheiden.
Er fing an zu hadern. War es die richtige Entscheidung, diesen Beruf und nicht einen ganz anderen gewählt zu haben, mit dieser Frau zusammen zu sein und somit das mögliche Glück mit einer anderen verpasst zu haben?
Er sah meine Größe und die Kleinheit des Gelebten Lebens.
Aber am meisten ärgerte ihn die Entscheidung, sich nicht mehr zu entscheiden, den Weg der Mutlosigkeit zu leben und mir den Mut zu überlassen.
So gestärkt erinnerte ich – das Ungelebte Leben – ihn an seine Fürsorgepflicht. Er gab daraufhin seinem Kind den Auftrag, sich um mich zu kümmern auch wenn er tot sei. Darum stehe ich jetzt hier am Grab. Es ist einsam und ich überlege, ob es ein Fehler war.
Fußnoten:
- Das folgende Zitat von Georg Jellinek war Ausgangspunkt für diesen Text: „Am Grab der meisten Menschen trauert, tief verschleiert, ihr ungelebtes Leben.“ ↩︎
- Schon in der Bibel steht, dass wer seine Talente nicht nutzt, bestraft wird: „ Werft den nichtsnutzigen Diener hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.“ Mt 25,14-30 ↩︎