Zitat von Ingo Diedrich am 28. Januar 2025, 10:37 Uhr
Wir leben in einer sehr privilegierten Situation. Ich kann jederzeit gute Musik hören, im Winter muss ich nicht frieren, bei Verletzungen stehen chirurgische Werkzeuge zur Verfügung und mit dem Auto kann ich zum nächsten Badesee fahren.
All das basiert auch auf einer Wissenschaft, die vor ca. 300 Jahren ihren Siegeszug begann und sich am Leitbild der damaligen Physik orientiert. Im Kern wird versucht, die Erscheinungen der Welt in möglichst lineare kausale Abhängigkeiten zu übersetzen.
Diese Art sich mit der Welt auseinander zu setzen, hat zu einer Explosion von Kreativität geführt. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten wurde Wissen gesammelt, wie in tausenden Jahren vorher nicht. Der Nutzen, den wir aus dieser Wissenschaft ziehen, ist kaum zu überschätzen.
Eine Verlockung wird dabei meist übersehen: diese Art der Weltaneignung schafft Ruhe. Sobald die Uneindeutigkeiten in Kausalketten übersetzt sind, können beherrschbare Faktoren definiert werde. Deutlich wird dies an Maschinen. Sie haben teilweise ungeheure Kräfte und können doch von uns reguliert werden. Oder der Computer: letztlich kann alles in 1 und 0 übersetzt werden.
Alles scheint geordnet werden zu können. Ordnung schafft Übersicht, Sicherheit und somit Ruhe.
Die Ordnung des unwägbaren Restes scheint eine Frage der Zeit. Wie Zygmunt Bauman1 zeigte, ist dies ein Grundirrtum der Moderne.
Grenzen
Das herrschende Wissenschaftsverständnis bedarf dringend einer Ergänzung. Wir benötigen eine Perspektive des Zugangs und nicht der Ordnung.
Zwei Gründe:
Intern stößt dies Denken immer deutlicher an seine Grenzen. Linearität wird durch Vernetzung ersetzt und die Kausalität wird immer häufiger in Frage gestellt. Die so entstehenden Modelle entsprechen weder den eigenen Idealen, noch sind sie gut handhabbar.
Zentrale Fragen unseres Lebens wie z.B. Kontakt, Gesundheit, Zuversicht, Intensität und Liebe können so nicht sinnvoll bearbeitet werden; Maschinen haben das nicht.
Im Unterschied zu den Maschinen sind wir lebendige Wesen und Disziplinen wie Biologie und Lebenswissenschaften müssen sich endlich als solche ernst nehmen. Das Leben als kybernetische Maschine zu betrachten führt allenfalls zum Verständnis einer „Biomaschine“2, aber nicht zum Verständnis lebendiger Prozesse.
Lebensforschung
Um dem „Forschungsgegenstand“ Leben gerecht zu werden, muss es in seinen Eigenheiten auch die Forschung selbst bestimmen. Das Leben ist weder linear noch kausal. Leben pulsiert, ist immer in Bewegung, lässt keine „Nullpunkte“ zu und tritt als Lebewesen in Kontakt.
Lebensforschung berührt und schafft weder Sicherheit noch Ruhe. Mit ihr bekommen wir das Leben nicht in den Griff. Die Forschungsperson ist kein auszuschließendes Artefakt, sondern das wichtigste Werkzeug. Nur ein Lebewesen kann einen lebendigen Ausdruck tatsächlich wahrnehmen. Alles andere ist nur ein Abklatsch des Ausdrucks.
Lebensforschung ist kein einfacher Weg, sondern erfordert insbesondere vom Wissenschaftspersonal ganz neue Kompetenzen: (Selbst-)Wahrnehmungsfähigkeit, Hingabe an den Gegenstand usw.
Warum lebendige Wissenschaft?
Weil wir es uns nicht mehr leisten können, dem Leben aus dem Weg zu gehen oder es der Esoterik zu überlassen.
Technik und ein mechanistisches Weltbild haben durchaus einen wichtigen Platz, aber bei zentralen Fragen unseres Lebens führen sie in eine kaum zu übersehende Sackgasse.
Wir benötigen den kreativen Schub, zu dem Wissenschaft in der Lage ist. Wissenschaft kann viel mehr sein.
—-
Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Frankfurt/M 1996 ↩︎
Robert F. Schmidt: Biomaschine Mensch. München 1979 ↩︎
Literatur zum Thema „Lebendige Wissenschaft“ z.B.:
Wir leben in einer sehr privilegierten Situation. Ich kann jederzeit gute Musik hören, im Winter muss ich nicht frieren, bei Verletzungen stehen chirurgische Werkzeuge zur Verfügung und mit dem Auto kann ich zum nächsten Badesee fahren.
All das basiert auch auf einer Wissenschaft, die vor ca. 300 Jahren ihren Siegeszug begann und sich am Leitbild der damaligen Physik orientiert. Im Kern wird versucht, die Erscheinungen der Welt in möglichst lineare kausale Abhängigkeiten zu übersetzen.
Diese Art sich mit der Welt auseinander zu setzen, hat zu einer Explosion von Kreativität geführt. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten wurde Wissen gesammelt, wie in tausenden Jahren vorher nicht. Der Nutzen, den wir aus dieser Wissenschaft ziehen, ist kaum zu überschätzen.
Eine Verlockung wird dabei meist übersehen: diese Art der Weltaneignung schafft Ruhe. Sobald die Uneindeutigkeiten in Kausalketten übersetzt sind, können beherrschbare Faktoren definiert werde. Deutlich wird dies an Maschinen. Sie haben teilweise ungeheure Kräfte und können doch von uns reguliert werden. Oder der Computer: letztlich kann alles in 1 und 0 übersetzt werden.
Alles scheint geordnet werden zu können. Ordnung schafft Übersicht, Sicherheit und somit Ruhe.
Die Ordnung des unwägbaren Restes scheint eine Frage der Zeit. Wie Zygmunt Bauman1 zeigte, ist dies ein Grundirrtum der Moderne.
Grenzen
Das herrschende Wissenschaftsverständnis bedarf dringend einer Ergänzung. Wir benötigen eine Perspektive des Zugangs und nicht der Ordnung.
Zwei Gründe:
Intern stößt dies Denken immer deutlicher an seine Grenzen. Linearität wird durch Vernetzung ersetzt und die Kausalität wird immer häufiger in Frage gestellt. Die so entstehenden Modelle entsprechen weder den eigenen Idealen, noch sind sie gut handhabbar.
Zentrale Fragen unseres Lebens wie z.B. Kontakt, Gesundheit, Zuversicht, Intensität und Liebe können so nicht sinnvoll bearbeitet werden; Maschinen haben das nicht.
Im Unterschied zu den Maschinen sind wir lebendige Wesen und Disziplinen wie Biologie und Lebenswissenschaften müssen sich endlich als solche ernst nehmen. Das Leben als kybernetische Maschine zu betrachten führt allenfalls zum Verständnis einer „Biomaschine“2, aber nicht zum Verständnis lebendiger Prozesse.
Lebensforschung
Um dem „Forschungsgegenstand“ Leben gerecht zu werden, muss es in seinen Eigenheiten auch die Forschung selbst bestimmen. Das Leben ist weder linear noch kausal. Leben pulsiert, ist immer in Bewegung, lässt keine „Nullpunkte“ zu und tritt als Lebewesen in Kontakt.
Lebensforschung berührt und schafft weder Sicherheit noch Ruhe. Mit ihr bekommen wir das Leben nicht in den Griff. Die Forschungsperson ist kein auszuschließendes Artefakt, sondern das wichtigste Werkzeug. Nur ein Lebewesen kann einen lebendigen Ausdruck tatsächlich wahrnehmen. Alles andere ist nur ein Abklatsch des Ausdrucks.
Lebensforschung ist kein einfacher Weg, sondern erfordert insbesondere vom Wissenschaftspersonal ganz neue Kompetenzen: (Selbst-)Wahrnehmungsfähigkeit, Hingabe an den Gegenstand usw.
Warum lebendige Wissenschaft?
Weil wir es uns nicht mehr leisten können, dem Leben aus dem Weg zu gehen oder es der Esoterik zu überlassen.
Technik und ein mechanistisches Weltbild haben durchaus einen wichtigen Platz, aber bei zentralen Fragen unseres Lebens führen sie in eine kaum zu übersehende Sackgasse.
Wir benötigen den kreativen Schub, zu dem Wissenschaft in der Lage ist. Wissenschaft kann viel mehr sein.
—-
Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Frankfurt/M 1996 ↩︎
Robert F. Schmidt: Biomaschine Mensch. München 1979 ↩︎
Literatur zum Thema „Lebendige Wissenschaft“ z.B.:
Man darf nicht annehmen, dass Naturwissenschaftler ihr Mensch Sein sobald sie einen Kittel anziehen an der Garderobe zurücklassen. Auch sterben sie nicht. Sie bleiben Menschen und nehmen wahr, überlegen, lesen, entscheiden sich für ein Thema entwickeln einen oder mehrere Ansätze und verfolgen diese – sind glücklich oder niedergeschlagen wie jeder andere Mensch auch.
Ich behaupte aus eigener Erfahrung, in der Findung der relevanten Fragestellungen setzen sie ihr ganzes Mensch Sein ein – beobachten, betrachten warten auf den Geistesblitz, woher auch immer – alles ist in diesem Stadium erlaubt. Je umfassender desto besser. Besonders der Dialog mit anderen eröffnet neue Welten für neues Denken und die Entlarvung alter Irrtümer. Ich sehe diesen Blog als eine solche Gelegenheit.
Wenn es dann aber mit der Forschung weitergeht, gibt aber ein paar Grundsätze, die die Lebendigkeit der Vorsätze und Ideen auf konstruktive Weise einengen. Linearität, Weltaneignung und Ruhe gehören nicht zu diesen Grundsätzen. Es geht mehr um Praktikabilität.
Zum Beispiel, damit sie nicht auf der Stelle treten, definieren Wissenschafter normalerweise, wie der geplante Forschungsprozess auf Fortschritt hin zu überprüfen sei und testen die zu erwartenden Ergebnisse im Vorfeld kritisch daraufhin, ob sie die wissenschaftlichen Annahmen eindeutig verwerfen könnten. Je gründlicher dieser Versuch, desto wertvoller die Ergebnisse. Allein einen Ansatz zu entwickeln, der eine wissenschaftlichen Annahme eindeutig falsifizieren kann, ist schon schwierig. Es zwingt zu kleinen Schritten und nur gründliche Vorüberlegung verhindert Zeitverschwendung – es sei denn man hat einfach Glück.
Die Latte hängt sehr hoch, denn es gilt diese Fortschritte in Artikeln zu publizieren, also von anderen Fachkollegen kritisch prüfen zu lassen. Erst wenn das gelungen ist, hat die Arbeit Frucht getragen. Ein wesentlicher Grundsatz dafür ist die Reproduzierbarkeit. Die Vorgehensweise ist so zu beschreiben, dass sie mindestens im Prinzip wiederholbar sei. Die Bedingung der wissenschaftlichen Nachvollziehbarkeit engt die Möglichkeiten weiter bedeutend ein. Dies gilt besonders für komplexe Themen. Wir können in der Natur trotz aller Erfolge in der Methodenentwicklung immer nur einen sehr geringen Ausschnitt messend erfassen. Dies legt wieder Bescheidenheit nahe.
Es geht also leider nicht darum, mit der spannendsten Frage anzufangen, sondern eine Fragestellung zu finden, die Aussicht auf die Gewinnung von reproduzierbaren und aussagekräftigen Ergebnissen hat. Somit ist eine Fragestellung, “Was ist Leben?” weit von der praktischen Forschung entfernt. Wenn man dies erwartet, kann man nicht auf die Naturwissenschaften bauen sondern verfolgt andere Ansätze, zum Beispiel die Philosophie, die natürlich auch ihre Grundsätze hat.
Aber, wie im Artikel ja bereits angedeutet, trotz dieser selbstauferlegten Begrenzungen, haben wir durch die Naturwissenschaften, die Biologie, enormes Wissen darüber erreicht, was in Lebewesen vorgeht, wie sie sind, was sie machen. Dabei liegen die gesichertesten Fortschritte in den einfachen Lebensvorgängen, untersucht an den einfachsten Lebewesen oder Zellen komplizierter Lebewesen (z.B. Menschen). Auch wenn Zellen in einer Wissenschaft als eine Art lebendiger Bioreaktor verstanden werden, bedeutet dies nicht, dass wir daraus nichts über das Leben lernen. Im Gegenteil, selbst Schulbuchwissen ist beeindruckend: Lebewesen haben Zellen in denen biochemische Reaktionsnetzwerke vorgehen, die letztlich von einem geregelten Gebrauch genetischer Information stabil gesteuert werden und das Leben der Zelle erhalten. (Bitte diesen Satz einmal auf der Zunge eines Menschen auf dem Stand vor 100 Jahren zergehen lassen!). Die Vorstellung, auf wie kleinem Raum all diese Prozesse in der nötigen Präzision ablaufen, ist ehrfurchteinflößend – wenn man sich darauf einlassen will. Der Ausdruck von Ehrfurcht ist allerdings nicht Teil der wissenschaftlichen Publikation, die Möglichkeit von Erfurcht kann aber wirklich werden im Menschen, der von den Ergebnissen erfährt. Es ließen sich tausende ähnliche Beispiele nennen.
Die Bewertung der Ergebnisse für weitere Forschung, Anwendung oder eben zum Erkenntnisgewinn obliegt dem Leser. Während die Art naturwissenschaftliche Befunde in der Regel klar definiert und nachvollziehbar ist, ist ihre Bedeutung offen. Den Ergebnissen Bedeutung zuzuschreiben obliegt der Interpretation, also einer weiteren geistigen Überlegung oder auch anderer Mittel die dazu gereichen, Bedeutung zu stiften. Lebendigkeit wie im Artikel angedeutet, scheint mir keine naturwissenschaftliche Kategorie – wohl gibt es Versuche minimale Grundsätze von Leben aufzulisten, die dem Leben unterliegenden materiellen Prozesse zu untersuchen und Lebensäußerungen zu beobachten und zu beschreiben. Wissenschaftliche Publikationen interpretieren nur den wissenschaftlichen Gehalt, dessen Gültigkeit von der Wissenschaft definiert ist. Darüber hinausgehende Überlegungen sind natürlich möglich, erlaubt und wünschenswert aber eben nicht Teil der Naturwissenschaften. Dies, will ich meinen, kann ihnen die Lebendigkeit im besten Sinne nicht nehmen. Ich lasse mich gerne eines Anderen belehren.
Zur Diskussion:
Welche prinzipiell andere Eigenschaften hat Lebendige Wissenschaft im Vergleich zu Natur- oder Geisteswissenschaften? Und wird sich Lebendige Wissenschaft von den Grundsätzen der Reproduzierbarkeit und allgemeinen Nachvollziehbarkeit leiten lassen?
Was heißt hier lebendige Wissenschaft?
Man darf nicht annehmen, dass Naturwissenschaftler ihr Mensch Sein sobald sie einen Kittel anziehen an der Garderobe zurücklassen. Auch sterben sie nicht. Sie bleiben Menschen und nehmen wahr, überlegen, lesen, entscheiden sich für ein Thema entwickeln einen oder mehrere Ansätze und verfolgen diese – sind glücklich oder niedergeschlagen wie jeder andere Mensch auch.
Ich behaupte aus eigener Erfahrung, in der Findung der relevanten Fragestellungen setzen sie ihr ganzes Mensch Sein ein – beobachten, betrachten warten auf den Geistesblitz, woher auch immer – alles ist in diesem Stadium erlaubt. Je umfassender desto besser. Besonders der Dialog mit anderen eröffnet neue Welten für neues Denken und die Entlarvung alter Irrtümer. Ich sehe diesen Blog als eine solche Gelegenheit.
Wenn es dann aber mit der Forschung weitergeht, gibt aber ein paar Grundsätze, die die Lebendigkeit der Vorsätze und Ideen auf konstruktive Weise einengen. Linearität, Weltaneignung und Ruhe gehören nicht zu diesen Grundsätzen. Es geht mehr um Praktikabilität.
Zum Beispiel, damit sie nicht auf der Stelle treten, definieren Wissenschafter normalerweise, wie der geplante Forschungsprozess auf Fortschritt hin zu überprüfen sei und testen die zu erwartenden Ergebnisse im Vorfeld kritisch daraufhin, ob sie die wissenschaftlichen Annahmen eindeutig verwerfen könnten. Je gründlicher dieser Versuch, desto wertvoller die Ergebnisse. Allein einen Ansatz zu entwickeln, der eine wissenschaftlichen Annahme eindeutig falsifizieren kann, ist schon schwierig. Es zwingt zu kleinen Schritten und nur gründliche Vorüberlegung verhindert Zeitverschwendung – es sei denn man hat einfach Glück.
Die Latte hängt sehr hoch, denn es gilt diese Fortschritte in Artikeln zu publizieren, also von anderen Fachkollegen kritisch prüfen zu lassen. Erst wenn das gelungen ist, hat die Arbeit Frucht getragen. Ein wesentlicher Grundsatz dafür ist die Reproduzierbarkeit. Die Vorgehensweise ist so zu beschreiben, dass sie mindestens im Prinzip wiederholbar sei. Die Bedingung der wissenschaftlichen Nachvollziehbarkeit engt die Möglichkeiten weiter bedeutend ein. Dies gilt besonders für komplexe Themen. Wir können in der Natur trotz aller Erfolge in der Methodenentwicklung immer nur einen sehr geringen Ausschnitt messend erfassen. Dies legt wieder Bescheidenheit nahe.
Es geht also leider nicht darum, mit der spannendsten Frage anzufangen, sondern eine Fragestellung zu finden, die Aussicht auf die Gewinnung von reproduzierbaren und aussagekräftigen Ergebnissen hat. Somit ist eine Fragestellung, “Was ist Leben?” weit von der praktischen Forschung entfernt. Wenn man dies erwartet, kann man nicht auf die Naturwissenschaften bauen sondern verfolgt andere Ansätze, zum Beispiel die Philosophie, die natürlich auch ihre Grundsätze hat.
Aber, wie im Artikel ja bereits angedeutet, trotz dieser selbstauferlegten Begrenzungen, haben wir durch die Naturwissenschaften, die Biologie, enormes Wissen darüber erreicht, was in Lebewesen vorgeht, wie sie sind, was sie machen. Dabei liegen die gesichertesten Fortschritte in den einfachen Lebensvorgängen, untersucht an den einfachsten Lebewesen oder Zellen komplizierter Lebewesen (z.B. Menschen). Auch wenn Zellen in einer Wissenschaft als eine Art lebendiger Bioreaktor verstanden werden, bedeutet dies nicht, dass wir daraus nichts über das Leben lernen. Im Gegenteil, selbst Schulbuchwissen ist beeindruckend: Lebewesen haben Zellen in denen biochemische Reaktionsnetzwerke vorgehen, die letztlich von einem geregelten Gebrauch genetischer Information stabil gesteuert werden und das Leben der Zelle erhalten. (Bitte diesen Satz einmal auf der Zunge eines Menschen auf dem Stand vor 100 Jahren zergehen lassen!). Die Vorstellung, auf wie kleinem Raum all diese Prozesse in der nötigen Präzision ablaufen, ist ehrfurchteinflößend – wenn man sich darauf einlassen will. Der Ausdruck von Ehrfurcht ist allerdings nicht Teil der wissenschaftlichen Publikation, die Möglichkeit von Erfurcht kann aber wirklich werden im Menschen, der von den Ergebnissen erfährt. Es ließen sich tausende ähnliche Beispiele nennen.
Die Bewertung der Ergebnisse für weitere Forschung, Anwendung oder eben zum Erkenntnisgewinn obliegt dem Leser. Während die Art naturwissenschaftliche Befunde in der Regel klar definiert und nachvollziehbar ist, ist ihre Bedeutung offen. Den Ergebnissen Bedeutung zuzuschreiben obliegt der Interpretation, also einer weiteren geistigen Überlegung oder auch anderer Mittel die dazu gereichen, Bedeutung zu stiften. Lebendigkeit wie im Artikel angedeutet, scheint mir keine naturwissenschaftliche Kategorie – wohl gibt es Versuche minimale Grundsätze von Leben aufzulisten, die dem Leben unterliegenden materiellen Prozesse zu untersuchen und Lebensäußerungen zu beobachten und zu beschreiben. Wissenschaftliche Publikationen interpretieren nur den wissenschaftlichen Gehalt, dessen Gültigkeit von der Wissenschaft definiert ist. Darüber hinausgehende Überlegungen sind natürlich möglich, erlaubt und wünschenswert aber eben nicht Teil der Naturwissenschaften. Dies, will ich meinen, kann ihnen die Lebendigkeit im besten Sinne nicht nehmen. Ich lasse mich gerne eines Anderen belehren.
Zur Diskussion:
Welche prinzipiell andere Eigenschaften hat Lebendige Wissenschaft im Vergleich zu Natur- oder Geisteswissenschaften? Und wird sich Lebendige Wissenschaft von den Grundsätzen der Reproduzierbarkeit und allgemeinen Nachvollziehbarkeit leiten lassen?
Spannende und weitreichende Fragen! Ich versuche mal eine Antwort. Dazu beziehe ich mich erst einmal auf die Sozialwissenschaften. Da gibt es einen wesentlichen Strang, der genau so an Forschung ran geht, wie du es beschreibst. Ein Beispiel aus einer klassischen Studie: In einem Ort in den Alpen geht der einzige Arbeitgeber pleite. Es kommen Soziologen, um die Veränderungen zu erfassen. Sie bilden Hypothesen und entsprechende Methoden. So beobachten sie regelmäßig, wie lange die Leute benötigen die Straße zu überqueren. Sie erheben Daten, werten aus und interpretieren. Was bedeutet es, dass die Menschen immer langsamer werden …
Ein anderer Strang geht einen anderen Weg. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass Menschen im Gegensatz zu den Tieren, ihrem Verhalten eine Bedeutung, einen Sinn geben: sie handeln. Wenn jemand einer anderen Person einen Faustschlag gibt, so kann dies aus der oben benannten Perspektive gemessen (quantifiziert) werden. Die Bedeutung versteht man so nicht bzw. nur sehr grob (z.B. durch eine entsprechende Befragung). Für Fragestellungen nach der Bedeutung gibt es andere Haltungen und Methoden. Da wir alles Menschen sind (Menschsein ist das Bindeglied) kennen wir uns prinzipiell mit Sinn in der Handlung aus. Was uns fehlt ist der Zugang zur Sinnwelt des Anderen. Es bringt hier nichts, den anderen zu verdinglichen und als Objekt aus der Distanz zu messen. Wir als Forschende müssen in Kontakt treten, uns einlassen. Dafür gibt es entsprechende Methoden z.B. bestimmte Interviewtechniken und Analyseschritte, teilnehmende Beobachtung … Hier geht es nicht um Quantität, sondern die Beschreibung von Qualitäten z.B. als Typen. Ist der Faustschlag ein Kampf, eine Spaß, Explosion, Rettungsakt, Sport …. Dies ist keine Vorarbeit zu einer richtigen Studie, sondern selbstständige verstehende Sozialforschung. Reproduzierbarkeit und Nachvollziehbarkeit können hier natürlich nicht durch Verfahren gesichert werden, wie in einer quantitativen Studie. Hier ist z.B. wichtig, dass der/die Forschende selbst Werkzeug ist und somit auch als solches thematisiert werden sollte. Dies geschieht u.a. in Gruppenbesprechungen von Textpassagen. Für den Nachvollzug müssen viel mehr die Umstände der Forschung beschrieben werden usw.
Wir haben zwei Perspektiven auf die Soziale Welt: zum einen die aus der Distanz, die erklärende und quantifizierende. Zum anderen die über den Kontakt, den Zugang, dem Dialog, dem qualitativen …
Beide Perspektiven bieten unterschiedliche Möglichkeiten, Daten und Ergebnisarten.
Mir ist klar, dass auch für Studien aus der Distanz, insbesondere zur Hypothesenbildung durchaus auch der Kontakt genutzt wird. Allerdings geschieht dies eben nicht auf wissenschaftliche Weise, sondern durch Vorstellungen wie Intuition o.ä.
Aufgrund der cartesianischen Spaltung, gibt es in den Naturwissenschaften nur die Perspektive der Distanz. Etwas Verbindendes, bzw. Identisches wie Sinn, Geist usw. wird für ihren Forschungsbereich expl. ausgeklammert. Qualität wird aus Quantität abgeleitet.
Insbesondere in der Biologie gibt es aber eben ein anderes Bindeglied als den Geist: das Leben. Wir können mit entsprechenden Methoden Zugang zu fremden Sinnwelten anderer Menschen ermöglichen. Wir können aber eben auch mit entsprechenden Methoden Zugang zu fremden Lebenswelten anderer Lebewesen ermöglichen.
Das ist im Prinzip alles. Es geht um eine Forschung aus der Perspektive des Kontaktes und nicht der Distanz. Wir haben sehr viel Wissen, dass die Perspektive der Distanz ausdrückt. Eine Zelle als einen „Bioreaktor“ zu beschreiben ist ja nicht richtig oder falsch, sondern gibt nur die Perspektive der Distanz wieder. Mit fortschreitender Forschung wird hier alles komplexer und bedarf immer neuer Modelle für diese Komplexität. Komplexität ist ein zentrales Merkmal dieser Perspektive. Eine Zelle ist nicht per se komplex, sondern nur aus dieser Perspektive. Und wenn man ständig mit dieser Komplexität konfrontiert ist, kann man schon ins Staunen kommen.
So wie es in der verstehenden Sozialforschung darum geht, im Kontakt zu schauen, ob sich mir ein Sinn erschließt, so geht es z.B. auf biologischer Ebene darum, eine Ausdrucksbewegung des fremden Gegenübers (z.B. eine Zelle) innerlich nachzuvollziehen, mich davon berühren zu lassen, in Resonanz gehen … und dies zu beschreiben. Diese Beeindruckung kann z.B. zur eigenen Struktur in Beziehung gesetzt werden oder eben auch durch andere Forschende reproduziert (bzw. nicht reproduziert) werden. Natürlich kann auch irgendwann die so gefundene Qualität quantifiziert werden.
Was mir wichtig ist: Bisher sammeln wir nur Wissen, dass aus einer Perspektive, in der Entfremdung festgeschrieben ist. Forschung, die über den Kontakt geht, kommt zu anderen Ergebnissen, Ergebnisse, die immer auch den Kontakt, das Verbindende, das Dazwischen … mitthematisieren. Die Lebendigkeit ist dabei das Bindeglied. Sie ist somit aber auch wesentliches Werkzeug der Forschung und die Frage, wie die Lebendigkeit gelebt wird bestimmt die Qualität der Forschung. Wir brauchen dringend wieder Kontakt, um uns als Teil der Natur zu erleben und entsprechend mit ihr zu interagieren. Dafür brauchen wir wissenschaftliche Ergebnisse
Mir ist klar, dass vieles nicht geklärt ist, aber ich höre jetzt hier auf …
Ingo
Spannende und weitreichende Fragen! Ich versuche mal eine Antwort. Dazu beziehe ich mich erst einmal auf die Sozialwissenschaften. Da gibt es einen wesentlichen Strang, der genau so an Forschung ran geht, wie du es beschreibst. Ein Beispiel aus einer klassischen Studie: In einem Ort in den Alpen geht der einzige Arbeitgeber pleite. Es kommen Soziologen, um die Veränderungen zu erfassen. Sie bilden Hypothesen und entsprechende Methoden. So beobachten sie regelmäßig, wie lange die Leute benötigen die Straße zu überqueren. Sie erheben Daten, werten aus und interpretieren. Was bedeutet es, dass die Menschen immer langsamer werden …
Ein anderer Strang geht einen anderen Weg. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass Menschen im Gegensatz zu den Tieren, ihrem Verhalten eine Bedeutung, einen Sinn geben: sie handeln. Wenn jemand einer anderen Person einen Faustschlag gibt, so kann dies aus der oben benannten Perspektive gemessen (quantifiziert) werden. Die Bedeutung versteht man so nicht bzw. nur sehr grob (z.B. durch eine entsprechende Befragung). Für Fragestellungen nach der Bedeutung gibt es andere Haltungen und Methoden. Da wir alles Menschen sind (Menschsein ist das Bindeglied) kennen wir uns prinzipiell mit Sinn in der Handlung aus. Was uns fehlt ist der Zugang zur Sinnwelt des Anderen. Es bringt hier nichts, den anderen zu verdinglichen und als Objekt aus der Distanz zu messen. Wir als Forschende müssen in Kontakt treten, uns einlassen. Dafür gibt es entsprechende Methoden z.B. bestimmte Interviewtechniken und Analyseschritte, teilnehmende Beobachtung … Hier geht es nicht um Quantität, sondern die Beschreibung von Qualitäten z.B. als Typen. Ist der Faustschlag ein Kampf, eine Spaß, Explosion, Rettungsakt, Sport …. Dies ist keine Vorarbeit zu einer richtigen Studie, sondern selbstständige verstehende Sozialforschung. Reproduzierbarkeit und Nachvollziehbarkeit können hier natürlich nicht durch Verfahren gesichert werden, wie in einer quantitativen Studie. Hier ist z.B. wichtig, dass der/die Forschende selbst Werkzeug ist und somit auch als solches thematisiert werden sollte. Dies geschieht u.a. in Gruppenbesprechungen von Textpassagen. Für den Nachvollzug müssen viel mehr die Umstände der Forschung beschrieben werden usw.
Wir haben zwei Perspektiven auf die Soziale Welt: zum einen die aus der Distanz, die erklärende und quantifizierende. Zum anderen die über den Kontakt, den Zugang, dem Dialog, dem qualitativen …
Beide Perspektiven bieten unterschiedliche Möglichkeiten, Daten und Ergebnisarten.
Mir ist klar, dass auch für Studien aus der Distanz, insbesondere zur Hypothesenbildung durchaus auch der Kontakt genutzt wird. Allerdings geschieht dies eben nicht auf wissenschaftliche Weise, sondern durch Vorstellungen wie Intuition o.ä.
Aufgrund der cartesianischen Spaltung, gibt es in den Naturwissenschaften nur die Perspektive der Distanz. Etwas Verbindendes, bzw. Identisches wie Sinn, Geist usw. wird für ihren Forschungsbereich expl. ausgeklammert. Qualität wird aus Quantität abgeleitet.
Insbesondere in der Biologie gibt es aber eben ein anderes Bindeglied als den Geist: das Leben. Wir können mit entsprechenden Methoden Zugang zu fremden Sinnwelten anderer Menschen ermöglichen. Wir können aber eben auch mit entsprechenden Methoden Zugang zu fremden Lebenswelten anderer Lebewesen ermöglichen.
Das ist im Prinzip alles. Es geht um eine Forschung aus der Perspektive des Kontaktes und nicht der Distanz. Wir haben sehr viel Wissen, dass die Perspektive der Distanz ausdrückt. Eine Zelle als einen „Bioreaktor“ zu beschreiben ist ja nicht richtig oder falsch, sondern gibt nur die Perspektive der Distanz wieder. Mit fortschreitender Forschung wird hier alles komplexer und bedarf immer neuer Modelle für diese Komplexität. Komplexität ist ein zentrales Merkmal dieser Perspektive. Eine Zelle ist nicht per se komplex, sondern nur aus dieser Perspektive. Und wenn man ständig mit dieser Komplexität konfrontiert ist, kann man schon ins Staunen kommen.
So wie es in der verstehenden Sozialforschung darum geht, im Kontakt zu schauen, ob sich mir ein Sinn erschließt, so geht es z.B. auf biologischer Ebene darum, eine Ausdrucksbewegung des fremden Gegenübers (z.B. eine Zelle) innerlich nachzuvollziehen, mich davon berühren zu lassen, in Resonanz gehen … und dies zu beschreiben. Diese Beeindruckung kann z.B. zur eigenen Struktur in Beziehung gesetzt werden oder eben auch durch andere Forschende reproduziert (bzw. nicht reproduziert) werden. Natürlich kann auch irgendwann die so gefundene Qualität quantifiziert werden.
Was mir wichtig ist: Bisher sammeln wir nur Wissen, dass aus einer Perspektive, in der Entfremdung festgeschrieben ist. Forschung, die über den Kontakt geht, kommt zu anderen Ergebnissen, Ergebnisse, die immer auch den Kontakt, das Verbindende, das Dazwischen … mitthematisieren. Die Lebendigkeit ist dabei das Bindeglied. Sie ist somit aber auch wesentliches Werkzeug der Forschung und die Frage, wie die Lebendigkeit gelebt wird bestimmt die Qualität der Forschung. Wir brauchen dringend wieder Kontakt, um uns als Teil der Natur zu erleben und entsprechend mit ihr zu interagieren. Dafür brauchen wir wissenschaftliche Ergebnisse
Mir ist klar, dass vieles nicht geklärt ist, aber ich höre jetzt hier auf …
Ich habe Sozialwissenschaften studiert, weil ich verstehen wollte, wie das zwischen den Menschen funktioniert und wie das mit der Gesellschaft so ist. Da kann man natürlich gute sozialphilosophische Bücher lesen, um da einzusteigen. Aber sobald es um die Empirie ging, also das konkrete Lernen und entdecken in der Welt, wurde meist erst einmal erwartet, dass man auf Distanz geht. Die Menschen, das Soziale als messbare Dinge betrachtet, misst und in Beziehung setzt. Das war unbefriedigend.
Gerade Biologen erlebe ich oft als naturverbundene Menschen. Von Andreas Weber gibt es so eine schöne Stelle, wo er völlig hin und weg, sich vom Leben in einer Pfütze beeindrucken lässt. Wie ist das, wenn man dann in der konkreten Forschung genau diese Verbundenheit los lassen muss und auf Distanz gehen muss? Ist das nicht ziemlich frustrierend oder verstehe ich da gerade was nicht?
Ich habe Sozialwissenschaften studiert, weil ich verstehen wollte, wie das zwischen den Menschen funktioniert und wie das mit der Gesellschaft so ist. Da kann man natürlich gute sozialphilosophische Bücher lesen, um da einzusteigen. Aber sobald es um die Empirie ging, also das konkrete Lernen und entdecken in der Welt, wurde meist erst einmal erwartet, dass man auf Distanz geht. Die Menschen, das Soziale als messbare Dinge betrachtet, misst und in Beziehung setzt. Das war unbefriedigend.
Gerade Biologen erlebe ich oft als naturverbundene Menschen. Von Andreas Weber gibt es so eine schöne Stelle, wo er völlig hin und weg, sich vom Leben in einer Pfütze beeindrucken lässt. Wie ist das, wenn man dann in der konkreten Forschung genau diese Verbundenheit los lassen muss und auf Distanz gehen muss? Ist das nicht ziemlich frustrierend oder verstehe ich da gerade was nicht?
Danke für den spannenden Exkurs in die Soziologie und für die Verdeutlichung des qualitativen Unterschieds zwischen einem quantitativen und einem qualitativen Forschungsansatz. Meine Erfahrung ist, dass wir am Ende nur an qualitativen Ergebnissen interessiert sind, die Zahlen werden vor einem bestimmten Hintergrund gedeutet und dies endet dann am besten in einem qualitativen Schluss.
Es macht Sinn, dort in Kontakt zu gehen, wenn sich dadurch ein Sinn erschließt, der sich ansonsten nicht erschlösse. Werden dann nicht aber am Ende, die Ergebnisse auch der qualitativen Studie ausschließlich mit allgemeingültigen Begriffen und logischen Argumentationen präsentiert und interpretiert? Wäre es ein Gewinn, z.B. von Offenbarungen und Gefühlen des Forschenden zur Unterstreichung der Relevanz und Gültigkeit zu schreiben? (oder in Form von Gedichten Frau Krempel?, siehe dazu, was Maarten J.F.M. Hoenen von Gaston Bachelard und verschiedenen Formen von Evidenzen zu berichten weiss, link )
Also wenn ich nicht irre, wäre es erst dann eine wissenschaftliche Studie, im Gegensatz zu einem Erlebnisbericht (im wahrsten Sinne des Wortes), wenn es gelänge, den sich erschließenden Sinn, also das gefundene Ergebnis, ganz unabhängig von der Methode der Evidenzgewinnung, in der objektiven Sprache der Wissenschaft zu beschreiben. Interessant wird es dann, wenn man Ergebnisse persönlich empfindet, die man nicht in objektiver Sprache ausdrücken kann. Das ist dann ein Ergebnis, so neu und so anders, dass es eine neue Theorie oder sogar Sprache braucht, um es wissenschaftlich zu auszudrücken. Dann liegt was in der Luft, dann wird’s spannend!
Das folgende Zitat wurde neulich auf einem Workshop präsentiert:
“It is wrong to think that the task of physics is to find out how Nature is. Physics concerns what we say about Nature.” Quoted in Aage Petersen, The Philosophy of Niels Bohr in Bulletin of the Atomic Scientists, 1963, XIX, 7, p. 12. (link)
Ich hätte es allerdings noch schöner gefunden, wenn er “Physics concerns what we can say about Nature” gesagt hätte. Aber er wird wohl seine Gründe gehabt haben.
Dies wäre damit auch meine Antwort auf deine Frage: Ich empfinde keinen Verlust, weil ich nicht loslassen muss. Ich muss die Ergebnisse meiner Forschung eben nur in allgemeingültiger Form beschreiben können, wenn es zur Wissenschaft beitragen soll. Das ist natürlich eben nicht einfach und ja, ich bin nicht selten enttäuscht darüber, dass mein selbst erlebter Funken nicht überspringt – aber das zeigt mir, dass ich dann wohl noch nicht da angekommen bin, wo ich hin will.
Danke für den spannenden Exkurs in die Soziologie und für die Verdeutlichung des qualitativen Unterschieds zwischen einem quantitativen und einem qualitativen Forschungsansatz. Meine Erfahrung ist, dass wir am Ende nur an qualitativen Ergebnissen interessiert sind, die Zahlen werden vor einem bestimmten Hintergrund gedeutet und dies endet dann am besten in einem qualitativen Schluss.
Es macht Sinn, dort in Kontakt zu gehen, wenn sich dadurch ein Sinn erschließt, der sich ansonsten nicht erschlösse. Werden dann nicht aber am Ende, die Ergebnisse auch der qualitativen Studie ausschließlich mit allgemeingültigen Begriffen und logischen Argumentationen präsentiert und interpretiert? Wäre es ein Gewinn, z.B. von Offenbarungen und Gefühlen des Forschenden zur Unterstreichung der Relevanz und Gültigkeit zu schreiben? (oder in Form von Gedichten Frau Krempel?, siehe dazu, was Maarten J.F.M. Hoenen von Gaston Bachelard und verschiedenen Formen von Evidenzen zu berichten weiss, link )
Also wenn ich nicht irre, wäre es erst dann eine wissenschaftliche Studie, im Gegensatz zu einem Erlebnisbericht (im wahrsten Sinne des Wortes), wenn es gelänge, den sich erschließenden Sinn, also das gefundene Ergebnis, ganz unabhängig von der Methode der Evidenzgewinnung, in der objektiven Sprache der Wissenschaft zu beschreiben. Interessant wird es dann, wenn man Ergebnisse persönlich empfindet, die man nicht in objektiver Sprache ausdrücken kann. Das ist dann ein Ergebnis, so neu und so anders, dass es eine neue Theorie oder sogar Sprache braucht, um es wissenschaftlich zu auszudrücken. Dann liegt was in der Luft, dann wird’s spannend!
Das folgende Zitat wurde neulich auf einem Workshop präsentiert:
“It is wrong to think that the task of physics is to find out how Nature is. Physics concerns what we say about Nature.” Quoted in Aage Petersen, The Philosophy of Niels Bohr in Bulletin of the Atomic Scientists, 1963, XIX, 7, p. 12. (link)
Ich hätte es allerdings noch schöner gefunden, wenn er “Physics concerns what we can say about Nature” gesagt hätte. Aber er wird wohl seine Gründe gehabt haben.
Dies wäre damit auch meine Antwort auf deine Frage: Ich empfinde keinen Verlust, weil ich nicht loslassen muss. Ich muss die Ergebnisse meiner Forschung eben nur in allgemeingültiger Form beschreiben können, wenn es zur Wissenschaft beitragen soll. Das ist natürlich eben nicht einfach und ja, ich bin nicht selten enttäuscht darüber, dass mein selbst erlebter Funken nicht überspringt – aber das zeigt mir, dass ich dann wohl noch nicht da angekommen bin, wo ich hin will.
„Es macht Sinn, dort in Kontakt zu gehen, wenn sich dadurch ein Sinn erschließt, der sich ansonsten nicht erschlösse. Werden dann nicht aber am Ende, die Ergebnisse auch der qualitativen Studie ausschließlich mit allgemeingültigen Begriffen und logischen Argumentationen präsentiert und interpretiert?“
In der Studie Biografieforschung zur Jugendgewalt ging es u.a. um Bedeutungen von Gewalt auf dem Hintergrund von Ausgrenzungserfahrungen. Da ging es nicht um Kausalitäten, sondern um Bedeutungen. Die Studie ist gut, wenn der LeserIn das Verhalten von Personen besser einordnen kann, einen Zugang zu ihnen bekommt, wo vorher keiner war. Evidenz im Sinne von: ach so, jetzt verstehe ich die Welt des Anderen. Dafür gibt es keine Mathe, keine logischen Argumente mit allgemeingültigen Begriffen oder eine objektive Sprache der Wissenschaft. Es ist aber auch nicht einfach ein Erlebnisbericht, weil eben der Zugang zur fremden Welt systematisch erarbeitet und dargestellt wird. Ich habe die Chance dies nachzuvollziehen oder auch Fehler in der Methode zu benennen. Ja, es stimmt, dass da subjektive Aspekte einfließen und es ist immer eine Frage, wie die Ergebnisse ausgedrückt werden. Manche machen das blumiger, andere nüchterner. W. Reich hat sogar gefordert, dass die Charakterstrukturen der Forschenden offengelegt werden, um einen Nachvollzug der Forschungen zu gewährleisten.
Objektivität und Allgemeingültigkeit ist für mich da kein Kriterium. Es geht darum, wie es jemanden gelingt, nachvollziehbar z.B. Prozesse, Strukturen oder Bedeutungen zu beschreiben.
Hoenen bezieht sich ja auf den Begriff ‚Masse‘. Und er nennt aus der Physik gleich zwei Sichtweisen auf den Begriff: von Einstein und von Newton. Beide nennen eine entsprechende Formel. Aber Hoenen betont, dass da jeweils noch sehr viele Bedeutungen und Weltsichten dranhängen, die erst einmal nicht offensichtlich sind, aber mitschwingen. Dies zu erfassen und angemessen darzustellen wäre so eine Aufgabe.
All das wird in der verstehenden Sozialforschung seit über 100 Jahren ausgiebig diskutiert. Ich fände es halt gut, wenn es auch in den Naturwissenschaften stattfindet.
„Das ist dann ein Ergebnis, so neu und so anders, dass es eine neue Theorie oder sogar Sprache braucht, um es wissenschaftlich zu auszudrücken.“ Ja, das ist sehr spannend. Wilhelm Reich hat dies für sich in Anspruch genommen. Er würde im „Neuland“ forschen. Welche (mathematische) Sprache passt da? Wo ist da was anschlussfähig? Was ist überhaupt nach welchen Kriterien überprüfbar usw.?
Ich glaube, dass dein „can“ bei dem Zitat auf einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dir und Bohr in diesem Zusammenhang hinweist: Du hast Popper vor Augen und Bohr schaut konstruktivistisch.
Es geht ja bei seinen Forschungen gerade um den Bereich, den Bachelard so gut findet, weil sich hier der Geist von der Enge der Sinne gelöst hat und die so gewonnenen Freiheiten voll ausnutzt. Ihm ist wahrscheinlich bewusst, dass er eine Welt konstruiert und sich eben immer wieder auf diese Welt bezieht.
Soweit dazu. Immer wieder spannend, herausfordernd und interessant, mit dir zu reden.
Danke!
Ein paar Gedanken zu deinem Beitrag:
„Es macht Sinn, dort in Kontakt zu gehen, wenn sich dadurch ein Sinn erschließt, der sich ansonsten nicht erschlösse. Werden dann nicht aber am Ende, die Ergebnisse auch der qualitativen Studie ausschließlich mit allgemeingültigen Begriffen und logischen Argumentationen präsentiert und interpretiert?“
In der Studie Biografieforschung zur Jugendgewalt ging es u.a. um Bedeutungen von Gewalt auf dem Hintergrund von Ausgrenzungserfahrungen. Da ging es nicht um Kausalitäten, sondern um Bedeutungen. Die Studie ist gut, wenn der LeserIn das Verhalten von Personen besser einordnen kann, einen Zugang zu ihnen bekommt, wo vorher keiner war. Evidenz im Sinne von: ach so, jetzt verstehe ich die Welt des Anderen. Dafür gibt es keine Mathe, keine logischen Argumente mit allgemeingültigen Begriffen oder eine objektive Sprache der Wissenschaft. Es ist aber auch nicht einfach ein Erlebnisbericht, weil eben der Zugang zur fremden Welt systematisch erarbeitet und dargestellt wird. Ich habe die Chance dies nachzuvollziehen oder auch Fehler in der Methode zu benennen. Ja, es stimmt, dass da subjektive Aspekte einfließen und es ist immer eine Frage, wie die Ergebnisse ausgedrückt werden. Manche machen das blumiger, andere nüchterner. W. Reich hat sogar gefordert, dass die Charakterstrukturen der Forschenden offengelegt werden, um einen Nachvollzug der Forschungen zu gewährleisten.
Objektivität und Allgemeingültigkeit ist für mich da kein Kriterium. Es geht darum, wie es jemanden gelingt, nachvollziehbar z.B. Prozesse, Strukturen oder Bedeutungen zu beschreiben.
Hoenen bezieht sich ja auf den Begriff ‚Masse‘. Und er nennt aus der Physik gleich zwei Sichtweisen auf den Begriff: von Einstein und von Newton. Beide nennen eine entsprechende Formel. Aber Hoenen betont, dass da jeweils noch sehr viele Bedeutungen und Weltsichten dranhängen, die erst einmal nicht offensichtlich sind, aber mitschwingen. Dies zu erfassen und angemessen darzustellen wäre so eine Aufgabe.
All das wird in der verstehenden Sozialforschung seit über 100 Jahren ausgiebig diskutiert. Ich fände es halt gut, wenn es auch in den Naturwissenschaften stattfindet.
„Das ist dann ein Ergebnis, so neu und so anders, dass es eine neue Theorie oder sogar Sprache braucht, um es wissenschaftlich zu auszudrücken.“ Ja, das ist sehr spannend. Wilhelm Reich hat dies für sich in Anspruch genommen. Er würde im „Neuland“ forschen. Welche (mathematische) Sprache passt da? Wo ist da was anschlussfähig? Was ist überhaupt nach welchen Kriterien überprüfbar usw.?
Ich glaube, dass dein „can“ bei dem Zitat auf einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dir und Bohr in diesem Zusammenhang hinweist: Du hast Popper vor Augen und Bohr schaut konstruktivistisch.
Es geht ja bei seinen Forschungen gerade um den Bereich, den Bachelard so gut findet, weil sich hier der Geist von der Enge der Sinne gelöst hat und die so gewonnenen Freiheiten voll ausnutzt. Ihm ist wahrscheinlich bewusst, dass er eine Welt konstruiert und sich eben immer wieder auf diese Welt bezieht.
Soweit dazu. Immer wieder spannend, herausfordernd und interessant, mit dir zu reden.