Lebewesen oder Mensch

Es ist kalt, dunkel und abweisend. Und in diese unwirtliche Welt gibt Gott etwas von sich hinein. Und die Welt beginnt zu strahlen, Liebe zeigt sich und wird lebendig. Dies ist ein starkes Bild, das wir Weihnachten nennen.

Die Vorstellung ist nicht neu. Schon zu Beginn der Bibel nimmt Gott einen kalten toten Klumpen Erde, formt etwas daraus und haucht seinen Atem hinein. Und so entsteht ein lebendiges beseelte Wesen (1 Mose 2:7).

Wir sind somit Teil der göttlichen Welt und gleichzeitig von seinem Atem durchdrungen. Dies war ein Selbstverständnis von Verbundenheit, das uns lange getragen hat.

Seelenlose Lebewesen

Ein paar Jahrtausende später verlieren wir die Seele und werden zu Objekten der Wissenschaft, die in uns bis heute komplexe Maschinen sieht.[1]

Wir sind keine inspirierten Lebewesen mehr,
sondern einfach nur noch kompliziert.

Was bist du?

Auf die Frage „was bist du?“ antworten die meisten wohl mit: „ein Mensch“. Wir sehen uns als Menschen im Zentrum der Welt. Dass jemand antwortet: „Ich bin ein Lebewesen“ kann ich mir kaum vorstellen.

Gespräch

Dabei ist das Leben wohl das größte Geschenk überhaupt. Als Lebewesen haben wir eine Umwelt[2] mit der wir in Resonanz gehen können, als Lebewesen haben wir Emotionen und als Lebewesen können wir einen stimmigen Platz einnehmen, den man als Glück wahrnehmen kann.

Leben ist alles, Menschsein eine Zugabe.

Wer Sinn und Lebendigkeit sucht, kann ihn hier finden. Wir müssen dieses Wissen nur zum Maßstab unseres Handelns machen.

Tote Menschenwelt

Die Betonung des Menschseins soll uns vor allem abheben von dem Tiersein, den anderen Lebewesen und der Natur. Und wie um das zu beweisen, stopfen wir die Welt voll mit toten Gegenständen. Diese sind längst keine Werkzeuge mehr, die uns zur Verfügung stehen. Sie sind eine neue Umwelt, in die wir uns integrieren müssen.

Die Lebenswelt ersetzen wir durch eine Todeswelt.

Leben Lebenswelt-Technik

Kommunikation, Bewegung, Kontakt usw. sind schon lange durch Regeln der toten Technik definiert.

Leben Nutzen-Lebenswelt

Selbst das, was wir Natur nennen, ist für die technische Nutzung durchstrukturiert. Und schon längst werden Implantate entwickelt, die unser Gehirn endlich voll kompatibel mit dieser Welt machen sollen. Diese Anpassung durch Digitalisierung und KI ist explizites Ziel der nächsten Jahre. [3]

Mir macht dieses Fallen in die Entfremdung Angst!

Mein Wunsch

Es fällt nicht leicht, die Verheißungen der toten Technik wie Macht, Kraft, Sicherheit und Wissen in Frage zu stellen und sich auf das pulsierende Leben in seiner Unverfügbarkeit und den unwillkürlichen Momenten einzulassen.

Aber wenn ich meine Sehnsucht nach Lebendigkeit ernst nehme, gibt es keine Alternative!

Ich wünsche mir, dass ich und viele andere aufhören, das Menschsein zu glorifizieren und stattdessen deutlich sagen: ich bin ein Lebewesen wie die anderen Lebewesen auch und dies ist der zentrale Maßstab meines Lebens.
Ich unterscheide mich vom Apfelbaum, Regenwurm und Elefant, aber als Lebewesen sind wir identisch. Das macht meine Verbundenheit mit der Welt aus.

An einer Stelle ist mir aber mein Menschsein wichtig: als Mensch weiß ich um die Begrenzung des Lebens. Ich weiß um den Tod und dass ich sterben werde. Und ich weiß: ohne Leben bin ICH nichts.

Auch darum ist mir das Leben heilig – mit und auch ohne einen Gott.



[1] „Ich habe Recht! Der menschliche Körper ist ein Uhrwerk, jedoch ein riesiges und mit solchem Einfallsreichtum und Geschick konstruiert, dass, wenn der Sekundenzeiger stehenbleibt […], der Minutenzeiger sich weiterdreht und seinen Lauf fortsetzt.“ (1748) Julien Offray de La Mettrie: Man a machine. Chigago 1912, S. 141
Neben diesem Hauptstrom blieb die Vorstellung von der Seele bestehen. Sie wurde von den Vitalisten noch durch eine kaum fassbare Lebenskraft ergänzt (z.B. H. Bergson „elan vital“, H. Driesch „Entelechie“) und W. Reich fügte dem die naturwissenschaftlich erforschbare Lebensenergie „Orgon“ hinzu.

[2] Vgl. Jakob von Uexküll 1921: Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin: J. Springer

[3] „Der Mensch, wie er im Moment konstituiert ist […] hat die Grenzen der Optimierung und der Steigerung des subjektiven Wohlbefindens augenscheinlich erreicht. Als ‚Funktionshemmnis‘ infolge seiner mangelhaften biologischen Anlagen verharrt er in steter De-Synchronisierung mit der technischen Welt. Um dies zu korrigieren, so die transhumanistische Idee, bedarf es der radialen Anpassung an bzw. Verbesserung durch advanced technologies.“ Stollfuß, Sven (2016): Differently Constituted Bodies and Minds. Transhumanistische Ansätze in der Beschleunigungsgesellschaft. In: A. Beinsteiner und T. Kohn (Hg.): Körperphantasien. Technisierung – Optimierung – Transhumanismus. Innsbruck, S. 175–190. S. 187

(Der Artikel ist dem ID-Blog entnommen)

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