Es geht mir nahe. Das passiert mir manchmal.
Z.B. wenn ich davon höre, wie Menschen in Libyen gequält werden und wir explizit wegschauen, wenn unsere Natur immer öder wird oder wenn ich mit dem Tod konfrontiert werde.

Dies sind dichte Gefühle der Enge. Sie rufen nach Lösung und Handlung und oft überfordern sie mich.
Mir geht aber auch nahe, wenn sich z.B. unerwartet ein Glücksmoment einstellt, wenn ich ein Aha-Erlebnis habe, Kontakt spüre oder mein Körper spontan mit der Musik mitgeht. Auch das ist intensiv und dicht und auch hier gibt es die Unsicherheit. Irgendwas an meinen Koordinaten verliert an Konstanz und Klarheit.
Schutz vor der Nähe durch Objektivität

Vor gut 150 Jahren schlug sich die Wissenschaft mit der Frage rum, wie man die Welt erforschen kann, ohne von den Gefühlen überfordert zu werden. Nähe war ein Problem. Es wurden zwei Grenzen gesetzt: 1. Zwischen dem Forscher und dem Objekt der Forschung. 2. Gegen die eigenen Gefühle, die auftauchten und mit der Welt mitschwingen wollten.[i]
Nur so konnten die Forscher die Wahrheit produzieren, die sie seitdem als Objektivität verherrlichen.
Objektivität ist eine Wahrheit, die die Grenze ins Zentrum stellt. Mit jedem Wissensschub wird diese Trennung reproduziert. In unserem Bild wird die Welt so immer komplexer – zerfällt in immer mehr getrennte Teile – die mühsam in Beziehung gesetzt werden.
Unterstützende Technik
Technik ist zur Orientierung dabei sehr hilfreich. Sie muss die eigenen Gefühle nicht töten, sondern ist schon tot und somit bestens für diese Welt geeignet. Als Filter zwischen uns und der Welt kann sie uns in der Grenzarbeit unterstützen und vor Beunruhigung schützen.

Unser technisch vermittelter Blick auf die Welt wird durch das Fernsehen und vor allem dem Internet deutlich:
Dank unserer abgespaltenen Emotionen können wir die technikgestützte Kommunikation aushalten. Und Dank des technikgestützten Filters können wir die Welt ertragen.
Egal ob es die brutalsten Übergriffe sind oder die zärtlichsten Intimitäten, wir können sie uns direkt vors Auge holen, ohne von der Nähe überfordert zu werden. Wir beherrschen die Bilder jederzeit und können uns mit einem Klick von ihnen befreien.
Nichts berührt uns somit unmittelbar, nichts geschieht unwillkürlich. Aber je mehr Wissen wir so erlangen, desto kälter und fremder wird uns die Welt.[ii]
Diese distanzierte Sicht auf das Nahe ist die bestimmende Perspektive unserer Gesellschaft. Mit Verweis auf die selbst erzeugte Komplexität löst sie sich immer stärker von den konkreten Emotionen. Dies erklärt auch, warum keine tragfähigen Lösungen u.a. für die Einsamkeit und die Naturzerstörung gefunden werden: Nähe, Kontakt und Eingebunden-Sein gelten ja als ein Problem und nicht als Lösung.
Schutz vor Nähe durch einen Schonraum
Aber natürlich ist dies nur die halbe Wahrheit. In dieser kalten und entfremdeten Welt gibt es kaum einen Wert, der höher angesehen wird als Intensität: intensiver Kontakt, authentische Gefühle, heftige Emotionen, innige Verbindungen usw. Sie stehen in allen großen Filmen, Erzählungen und Büchern als hoher Wert im Zentrum. Die Nähe betrachtet aus der absoluten Nähe wird hier zelebriert.

Wir schaffen uns die Räume für diese Sehnsuchtsbilder. Es sind die Konzerte, die wir besuchen, die Wellnesswochenenden, die Urlaube mit der/dem Geliebten, die Meditations- und Yogazeiten, der Männerabend, Weihnachten usw. Immer wird das intensive Erleben gesucht und immer gibt es ein klares Ein- und Austreten. Es sind Schutzräume, die wir uns kreieren. Hier wollen wir anders sein, Intensität zulassen. Und wenn wir sie uns nicht kreieren können, können wir sie buchen. Die Seminarhäuser leben von der Sehnsucht nach diesen Schutzräumen.
Die Erlebnisse in diesen Räumen sind Ausnahmen und haben den Charakter von Events. Hier spüren wir, wie das Leben eigentlich sein könnte. Und hier herrscht die Sehnsucht, wenigstens etwas davon in den Alltag zu retten.
Schutz vor Nähe durch Oasen in der Wüste
Dieses Aufgespalten-Sein kennzeichnet unsere Gesellschaft: die abgetrennten Oasen der Intensität in der Wüste zweckrationaler Orientierung. Beides für sich soll uns vor der Nähe schützen und die Aufspaltung stabilisiert die Anordnung.[iii]
Lebendige Nähe

Ja, manchmal geht mir etwas nahe. Dann kann ich aus einer inneren Distanz heraus das Nahe als Objekt vor mir aus der Ferne ansehen. Es ist dann beruhigt und ich kann evtl. sogar ein kleines Modell zur Erklärung anbieten. Auf der anderen Seite kann ich mich dem Nahen in einem Schonraum intensiv hingeben. Wohlwissend, dass dies nur eine Übung für die Realität ist. Der eine Umgang mit dem Nahen schützt mich vor aufwallenden Emotionen und beunruhigenden Eindrücken. Der andere schützt mich vor der so geschaffenen entfremdeten Kälte meiner Umwelt.
Lebendig werden heißt: mich langsam dieser Schutzmaßnahmen zu entledigen.
Quellen
[i] In dem Buch „Objektivität“ werden die Phasen der Wissenschaft mit ihren Anforderungen an die ForscherIn sehr schön herausgearbeitet. Beim Aufkommen der Objektivität im 19. Jh. ging es um „ein Selbst ohne Subjektivität, einen Willen ohne Eigenwillen“, das nur über „Aufopferung und Selbstverleugnung“ erreicht werden kann. Diese „Männer mit energischem, gar hitzigem Temperament“ waren „Helden der Objektivität“ und „traten auf dem Feld der Ehre gegen sich selbst an.“ S. 243
[ii] Adorno beschreibt das folgendermaßen: „Der Mythos geht in der Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben.“ Horkheimer u. Adorno 2016, S. 15
[iii] Diese Anordnung wird von Wilhelm Reich „mechano-mystische Spaltung“ genannt und von Hartmut Rosa als Wüste der Entfremdung mit Resonanzoase beschrieben.
Literatur
Daston, Lorraine; Galison, Peter (2007): Objektivität. Frankfurt, M.: Suhrkamp.
Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (2016): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M
(Dieser Artikel wurde dem ID-Blog entnommen)