Ich bewege mich viel in der Computerwelt. Die unendlichen Möglichkeiten faszinieren mich – und manchmal öden sie mich auch nur an.
Ein kurzer Gedankengang dazu:
Der lebendige Mensch mit seiner Orientierung an Affekten und Emotionen wird schon lange als tiernah und störend empfunden. In der Kriminologie wird er bis heute als die zentrale Gefahr für unsere Ordnung benannt.[1] Und Elias hat eindrucksvoll beschrieben wie dies im Zivilisationsprozess bearbeitet wird.

Unsere Regulation wird immer anspruchsvoller und unser Verhalten gemäßigter. Das lebendige Pulsieren mit allen Hochs und Tiefs, mit den Heftigkeiten der Affekte, aber auch die Intensität der Hingabe nimmt ab.

Wir stutzen uns die Flügel. Wir verlieren Lebendigkeit und sterben. Das Tote rückt näher.[2]
Dies wird meist in zweifacher Hinsicht interpretiert:
- Durch die Dämpfung wird Energie zur Verfügung gestellt, die Natur des Menschen zu transzendieren. Wir werden zu „Kulturmenschen“.
- Diese Zivilisierung des Menschen ist die notwendige Angleichung an die sich fortlaufend differenzierende Gesellschaft. Nur so sei ein Überleben in komplexen Gesellschaften möglich.
Beide Ansichten hängen eng zusammen und werden von einer bitteren Einsicht begleitet: Der Mensch verliert auch an Potential: Unverschränkter emotionaler Kontakt und Ausgelassenheit erscheinen als Luxus der Tierwelt, der uns immer weniger zur Verfügung steht.
Canetti hat dies als Verlust der „Freiheit des Gesichtes“ beschrieben: „Das fluide Treiben unklarer, halb ausgegorener Verwandlungen, deren wunderbarer Ausdruck jedes natürliche, menschliche Antlitz ist, mündet in der Maske; […] Die Maske ist klar, sie drückt etwas Bestimmtes aus, nicht mehr, nicht weniger. Die Maske ist starr: dieses Bestimmte ändert sich nicht.“[3]
Diese Entwicklung ist sehr deutlich erkennbar. Gleichzeitig spielen aber gerade Emotionen z.B. in Fernsehshows eine große Rolle.[4]
Das Tote wird lebendig
Dies verweist auf einen zweiten Entwicklungsstrang: den der toten Technik. Der Technik fehlt jeglicher fluider Ausdruck. Sie ist starr, tot und in diesem Sinne durch und durch Maske. Sie markiert quasi den Endpunkt der Zivilisierung.
Die Orientierung an der Technik ist somit eine ideale Möglichkeit das Disziplinierungsprojekt Zivilisation voranzutreiben. Dies ist im Bereich des Militärs, der industriellen Produktion aber auch im Büroalltag deutlich.
Aber es gibt da eine wichtige Entwicklung: Die tote Technik orientiert sich immer stärker an Lebensprozessen. Je leistungsstärker die Hard- und Software wird, desto besser kann das Fluide durch Komplexität und Vernetzung simuliert werden.
Und hier treffen sich die beiden Entwicklungen. Während wir im Laufe der Zivilisierung immer maskenhafter werden, wirkt die Technik immer lebendiger.
Das tote Lebendige und das lebendige Tote
Technik und Menschen konstruieren im Bereich der Maske eine gemeinsame Wirklichkeit, die nach den Gesetzen der Technik funktioniert und lebendig aussieht. Z.B. in der Kommunikation ist die Technik dem Status eines Werkzeugs längst entwachsen und zum integralen Strukturmerkmal geworden.

Durch diese Integration von Leben und Technik entsteht etwas Neues.
Während im Zivilisationsprozess die Emotionen modelliert wurden, um angemessen handeln zu können, werden sie jetzt einfach abgekoppelt. Handlungen werden immer weniger als Ausdruck von Emotionen, als Unterdrückung derselben oder als Sublimierung verstanden. Die Handlungen emanzipieren sich von den Emotionen.
Der große Fortschritt
Im neu gestalteten Maskenbereich ist Technik und Mensch klar: Handlungsmöglichkeiten sind quasi unendlich wenn man sie nur von den Emotionen entkoppelt.[5] Menschlicher Fortschritt ist technischer Fortschritt und dieser ist riesig.
So ist es auch nicht mehr notwendig, den Schmerz beim Flügel stutzen wahrzunehmen. Die uns gegebenen Flügel sind verzichtbar. Wir können auch ohne die fluiden Ungewissheiten des Lebens in die Höhe steigen. Der Mensch holt sich so trotz aller Zivilisierung seine Heftigkeit im technikgestützten Ausdruck zurück.
Wir müssen nur dazu bereit sein, „unendliche Möglichkeiten“ mit „Freiheit“ zu verwechseln und zu akzeptieren, dass in diesem Maskenbereich Berührung, Kontakt und Intensität simuliert wird – immer perfekter, aber eben simuliert.
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1 Vgl. die Kontrolltheorie nach Hirschi/ Gottfredson. Sie unterscheiden eindeutig zwischen Menschen mit niedriger und hoher Selbstkontrolle. Die ersten bleiben ihren kurzfristigen Bedürfnisbefriedigungen verhaftet und werden somit kriminell. (vgl. Kontrolltheorie)
2 Bei H. Hesse wird dem Steppenwolf vorgehalten: „Du bist das Gefängnis in dem du sitzt“.
S. Freud betont immer wieder die Wichtigkeit der Zivilisierung bzw. Kultivierung („Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg.“ Freud (1933), S.493), aber er sieht auch die Schattenseiten: „Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch schwer geschädigt, es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung befindlichen Funktion, wie unser Gebiss und unsere Kopfhaare als Organe zu sein scheinen.“ (Freud (1930), S.396) Er macht sich sogar Sorgen um das Fortbestehen der Menschheit: „Vielleicht führt [der Kulturprozess] zum Erlöschen der Menschenart, denn er beeinträchtigt die Sexualfunktion in mehr als einer Weise.“ (Freud (1933), S.492)
Vgl. auch Geboren mit der Angst
3 Elias Canetti, S. 444
4 Ob nun ein Superstar gesucht wird oder nur ein Topmodel, noch nie wurden so viele berührte, strahlende und weinende Menschen in Nahaufnahme im Fernsehen gezeigt.
5 Transhumanismus nennt man das. Z.B. die Piratenpartein ist ein Fan davon. In ihren Worten lassen sie sich dabei von einer „hedonistischen Philosophie“ leiten. Es gibt auch schon zahlreiche weitere Institutionen, die sich in diese Richtung orientieren.
Zygmunt Bauman weist in seiner Analyse zum Holocaust darauf hin, dass der „systematische, geplante, kaltblütige Mord“ nur aufgrund des Ausschaltens des „animalischen Mitleids“ möglich gewesen sei (Bauman S.199). Der Holocaust ist demzufolge eben kein Rückfall in die Barbarei, sondern die gelungene Integration von technischen Maßstäben (vgl. auch Diedrich, S.337ff). Der systematische Massenmord ist eine der vielen Handlungsoptionen, die uns durch die Integration von Mensch und Technik ermöglicht werden. (vgl. Maschinenmenschen)
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Quellen:
Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg 1994
Canetti, Elias: Masse und Macht. Frankfurt/M 1999
Diedrich, Ingo: Aus – einander – setzung mit Gewalt. Eine orgonomisch funktionalistische Arumentation. <http://elib.suub.uni-bremen.de/publications/dissertations/E-Diss975_diedrich_i.pdf> 2003
Freud (1930), Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. In: Freud, Anna/ Grubisch-Simitis, Ilse (Hrsg.): Sigmund Freud. Werkausgabe in zwei Bänden. Band 2. Frankfurt/M 1978, S.367- 424
Freud (1933), Sigmund: Warum Krieg? In: Freud, Anna/ Grubisch-Simitis, Ilse (Hrsg.): Sigmund Freud. Werkausgabe in zwei Bänden. Band 2. Frankfurt/M 1978, S.483-493
Gottfredson, Michael R./ Hirschi, Travis: A general theory of crime. Stanford, California 1990
(Dieser Artikel wurde dem ID-Blog entnommen)