Vitalität

Vitalität ist ein wichtiges wissenschaftliches Gütekriterium für Landschaften. Sie wirkt auf das Wohlbefinden der Menschen. Diese Aussagen meines Freundes aus der Naturschutzbehörde haben mich irritiert und neugierig gemacht.

Wird in deutschen Behörden von einer „Lebenskraft“ ausgegangen? Verorten sich die Landschaftspfleger, Baumbegutachter und offiziellen Naturschützer in der Tradition des Vitalismus?

Alter Baum Vitalität

Vitalität – eine Recherche

Eine erste grobe Internetrecherche führte zu folgender Einschätzung:

Garzweiler Vitalität

Vitalität ist insbesondere im Wellnessbereich ein gern benutzter Begriff der Werbung. Aber auch Unternehmen wie RWE behaupten, ihnen gehe es in der Rekultivierung der selbst verwüsteten Gebiete darum, „mit Weitsicht das Beste zu schaffen als Grundlage für eine neue, vitale Landschaft.“[1]

Diese Seiten stehen nicht im Fokus dieses Blogs.

Das gilt auch für Aussagen, die sich z.B. auf die Geomantie berufen und somit nicht im Mainstream einzuordnen sind.

Zwei kurze Beispiele: So wird behauptet, dass eine bestimmte Vulkanlandschaft Wirkungen beim Menschen zeige: „Geborgenheit und Freiheit, Sicherheit, gibt Halt, Verbesserung der eigenen Vitalität, aktiviert Selbstbewusstsein und Willenskraft“ „In der Gesundheitsregion gibt es vitale Organe der Landschaft, Kraftorte und Kraftachsen mit unterschiedlichen Qualitäten.“ [3]

Eine ähnliche Perspektive drückt sich im Text „Wirkkräfte der Landschaften“ aus: „Durch den Aufenthalt in bestimmten Landschaftsformen werden die dazu passenden Seelenqualitäten in uns angeregt.“[4]

Vitalität – ein gern gemessener Wert

Auch diesseits der Grenze zu diesen Außenseiterpositionen finden sich zahlreiche Hinweise auf die Nutzung von Vitalität als Gütekriterium:

Gespräch

In der Medizin wird damit z.B. ausgedrückt, wie viel Prozent einer Zellkultur noch leben. [5] Die kalte Vitalitätsprüfung beim Zahnarzt stellt fest, ob der Zahn schon tot ist. [6]

Im Bereich der Wirtschaft und der Organisationsentwicklung wird u.a. von „vitalen Unternehmen“ gesprochen. Der Krankenstand, Arbeitszufriedenheit, aber auch Formen des Wissensmanagements werden hier als Merkmale genannt.[7]

Baum_Schnee Vitalität

Auch in der Betrachtung von Ökosystemen ist die Kategorie Vitalität sehr wichtig. Insbesondere die so genannte „Nachhaltige Waldwirtschaft“ betont in Anlehnung an die Ministerkonferenz von Helsinki die Bedeutung der Vitalität. [8]

Anhand mehrerer Indikatoren wie z.B. den Kronenzustand der Bäume wird seit Jahren ein aufwendiges Monitoring durchgeführt und diskutiert.[9] Es wird von einer „Vitalitätsansprache“ gesprochen und es gibt „sensible Vitalitätsweiser“, „Vitalitätswerte“, eine „Vitalitätsskala“ und einen „Vitalitätsindex“.[10] Vitalität scheint auf dieser Basis gut quantifizierbar zu sein. So wird festgestellt, dass 1978 in einem bestimmten Bereich 78% der Eichen eine „üppige“ bis „normale“ Vitalität hätten, heute sei dies nur noch bei 47% zutreffend.

Interessant ist, dass immer wieder Skalen der Vitalität angeboten werden. Es wird nicht einfach zwischen lebendig und tot unterschieden, sondern eine graduelle Differenzierung der Lebendigkeit angenommen. Diese Skalen werden dann häufig mit der Skala des Alters verknüpft. In dieser Verknüpfung liegt eine große Attraktivität der Kategorie Vitalität. Auch wenn z.B. ein Baum vom Alter her dem Tod sehr nahe ist, kann er doch eine größere Vitalität haben als ein sehr junger Baum. Vitalität ist somit etwas, das sich je nach Alter unterschiedlich ausdrückt und gemessen wird, aber über alle Altersstufen hinweg Vergleiche erlaubt. [11]

Vitalität beim Menschen

Dementsprechend kann Vitalität auch auf den Menschen angewandt werden. Die „Europäische Vereinigung für Vitalität und Aktives Altern“ versteht sie als „Dachmarke“, die mehrere Ebenen integriere, wie z.B.: „ ‚Gesund – Krank‘, ‚Jung – Alt‘, ‚Körperlich – Seelisch – Sozial‘“. Für sie gilt: „Vitalität ist messbar und als operationale Funktionsgröße Referenzgrundlage für ein ressourcenbezogenes und interdisziplinäres Normwert-, Ordnungs- und Klassifikationssystem in Medizin und angrenzenden Gesundheitsdisziplinen.“ [12] Die Organisation plädiert auch für ein Gesundheitsverständnis, das die Vitalität zum zentralen Begriff erhebt.[13]

Eine so verstandene Megakategorie Vitalität erlaubt nicht nur einen Gütevergleich innerhalb eines Lebens, sondern auch verschiedener Lebewesen einer Art und auch verschiedener Arten und sogar in Bezug auf eine evolutionäre Entwicklung. [14]

Vitalität – Definitionen

Vitalität ist ein sehr mächtiger Begriff. Es ist daher wichtig nicht nur zu fragen, wie sie gemessen wird, sondern auch, was da gemessen wird. Was ist Vitalität?

Schnecke Vitalität

Natürlich gibt es zahlreiche Definitionen. Sie beziehen sich meist auf den vitalistischen Begriff der „Lebenskraft“,[15] der in der modernen Naturwissenschaft allerdings als überholt gilt. Auf den von mir recherchierten Seiten finden sich nur wenige Definitionen. Zwei Ausschnitte aus dem Bereich der Baumbegutachtung möchte ich kurz anführen:

Nach dem „Baumpflege-Lexikon“[16] beschreibe der DUDEN die Vitalität als „Lebenskraft eines Organismus“. Aber schon im nächsten Satz sagt der Text nicht mehr, was Vitalität ist, sondern wie sie sich „allgemein äußert“. Vitalität drücke sich dadurch aus, wie es einem Organismus gelingt, unter gegebenen Umweltbedingungen zu überleben. Sie beziehen sich dabei auf eine Definition des Forstwissenschaftlers Alex Shigo. [17]

Dies ist eine handhabbare Definition. Sie weicht aber der Frage aus, was diese Überlebensfähigkeit ausmacht. Gehen sie tatsächlich im Gegensatz zum wissenschaftlichen Mainstream von einer zugrundeliegenden „Lebenskraft“ aus?

Noch verwirrender stellt sich die mehrfach zitierte Definition aus dem Text „Praxis zur Baumbeurteilung“ dar:

„Die Kraft eines biologischen Systems wird beschrieben durch sein genetisches Potential, Überlastungen zu widerstehen, Bedrohungen zu überleben. Es handelt sich also um eine Anlage, nicht bereits um deren Verwirklichung. Die Umsetzung des Potentials setzt eine weitere aktive Fähigkeit voraus, nämlich Vitalität – nach Shigo die Fähigkeit, unter den derzeit gegebenen Bedingungen zu existieren, also eine dynamische Handlung.
Kraft ohne Vitalität ist nutzlos und Vitalität ohne Kraft gibt es nicht.“ [18]

Auch hier wird Shigos Definition durch eine Kraft ergänzt. Allerdings wird sie nicht dem DUDEN zugeschrieben, sondern dem „genetischen Potential“. Mir fehlt wirklich die Phantasie um zu verstehen, was die Autoren damit meinen, wenn sie Kraft als ein genetisches Potential beschreiben. Noch komplizierter wird es in der Kombination mit Shigos Aussagen. Ich könnte verstehen, wenn man sagt, dass der „dynamischen Handlung“ (dynamic action) eine Kraft zugrundeliegt. Hier wird aber ein dialektischer Zusammenhang aus kraftvollem „genetischen Potential“ und dynamischer „aktiver Fähigkeit“ konstruiert. Eine Fähigkeit führt zur Verwirklichung eines Potentials.

Die Schwierigkeit der Definition liegt sicher nicht in der Kompetenz dieser Experten im Bereich der Baumbegutachtung. Sie liegt im Begriff selbst und in der Einordnung in den Beschränkungen der modernen Naturwissenschaft.

Auf der einen Seite wird mit der Vitalität ein wichtiges lebensspezifisches Merkmal herausgearbeitet und auf der anderen Seite findet dies in einem wissenschaftlichen Umfeld statt, dass gerade das Vorhandensein eines solchen Merkmales leugnet.

Man kann sich innerhalb des naturwissenschaftlichen Mainstream nicht auf eine „Lebenskraft“ oder „Kraft eines biologischen Systems“ berufen!

Vitalität – Wilhelm Reich

Wilhelm Reich Vitalität

Wilhelm Reich hat dieses Problem schon für die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts als mechanistisch-mystische Spaltung beschrieben. Auf der einen Seite wurde versucht, lebendige Prozesse auf chemische und physikalische Aspekte zurückzuführen (mechanistische Naturwissenschaft). Diese Aussagen waren wissenschaftlich abgesichert, hatten aber nur eine geringe Aussagekraft. Auf der anderen Seite standen z.B. Bergson und Driesch, die mit ihren Konzepten der Lebenskraft zwar große Aussagekraft hatten, aber keine naturwissenschaftliche Belege anbringen konnten (mystisch).

Auch Reich verortete sich zeitweise in diesem Spannungsfeld:

„Die Vitalisten schienen mir immer dem Verständnis des Lebensprinzips näher zu sein als die Mechanisten, die das Leben zerschnitten, ehe sie es zu begreifen versuchten.“ „Das Prinzip einer schöpferischen Kraft, die das Leben regiert, war nicht zu leugnen, doch es befriedigte nicht, solange es nicht zu fassen, zu beschreiben und zu lenken war.“ [19]

Achtzig Jahre später scheint dies noch zu gelten: Die letztlich unbefriedigende mechanistische Perspektive (Genetik) wird noch immer als Basis genutzt und in einer unwissenschaftlichen Weise durch eine (in diesem Sinne mystische) „Kraft“ ergänzt.

Soweit zumindest nach meiner ersten Internetrecherche.

Zusammenfassung

Vitalität wird insbesondere in mehreren naturwissenschaftlichen Bereichen als ein Gütekriterium genutzt. Der direkte Bezug auf das Leben macht sie zu einer sehr weit anwendbaren Kategorie. Sie ist skalierbar und wird häufig altersspezifisch operationalisiert. Trotz der Wichtigkeit des Gütekriteriums wurde keine befriedigende naturwissenschaftliche Definition gefunden. Auch konnte ich auf den relevanten Seiten keine Beschreibung des Zusammenhanges zwischen der Vitalität von Landschaftsräumen und dem Wohlbefinden der Menschen finden.

(Dieser Artikel ist dem ID-Blog entnommen)

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[1] Rede von Jan Zilius, Vorstandsvorsitzender der RWE Power AG; Bildquelle: Solarenergie-Förderverein Deutschland e.V
[3] BWR Verlag: Geomantie im Steirischen Vulkanland
[4] Wechselzeit
[5] Annette Baltes: Beeinflussung der Proliferation und Vitalität humaner Chondrozyten …; vgl.: Spermiogramm
[6] Vgl.: Toter Zahn
[7] Europäischer Kongress: „Nachhaltige Arbeit für vitale Organisationen“
[8] Nationales Forstprogramm Deutschland
[9] Bayrische Forstverwaltung
[10] Vitalität und genetische Variabilität der Eiche in NRW
[11] Baumpflege Lexikon
[12] Europäische Vereinigung für Vitalität und Aktives Altern (eVAA)
[13] Meißner-Pöthig: Vision Vitalität!
[14] eVAA: Operationale Definition von Vitalität
[15] The free dictionary; Wikipedia
[16] Baumpflege-Lexikon
[17] vgl.: Alex Shigo: How trees survive
[18] Gebrüder Wäldchen
[19] Wilhelm Reich: Die Entdeckung des Orgons Bd.1, S.28, Köln 1987; vgl. Ingo Diedrich: Naturnah forschen, S. 16-19, Berlin 2000

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